© Andreas Denzer

Mehr als zwei Personen täglich stürzten im Jahr 2020 beim Ein- oder Aussteigen in und aus dem Lkw-Fahrerhaus ab. Das ergab eine Untersuchung der BG Verkehr, die die Umstände von Absturzunfällen untersucht. „Die Fahrerinnen und Fahrer wechseln oft­mals das Fahrzeug. Damit ändert sich häu­fig auch die Anzahl der Stufen bis zum Sitz. Da kann es bei Unachtsamkeit schon mal zur Fehleinschätzung bei der Stufenanzahl kommen und der Fuß tritt ins Leere“, sagt Michael Fischer, Referent für Präventions­schwerpunkte bei der BG Verkehr.

Auch die Forschung hat sich des Problems angenommen. Dr. Jennifer Latka hat in ihrer Doktorarbeit an der Technischen Universität München die Ursachen untersucht: „Mich hat vor allem interessiert, wie ein- und ausge­stiegen wird. Welche Strategien verfolgen die Fahrerinnen und Fahrer? Welche Faktoren sind dabei entscheidend: Ist es die Fahrzeuggeo­metrie? Das Alter oder die Größe der Person?“

Für das Projekt mit zwei- und dreistufigen Fahrzeugen lud sie an zwei Testtagen jeweils 36 Personen ein, darunter eine Frau. Bei der ersten Runde waren die Teilnehmenden im Schnitt 42 Jahre alt. Bei der zweiten Versuchs­reihe waren nur Männer dabei, die im Schnitt 48 Jahre alt waren. „Alle Lkw-Fahrer und die Lkw-Fahrerin besaßen schon lange einen CE-Führerschein“, erklärt Latka. Ihr Verhalten unterschied sich nur beim Aussteigen: „Die Unerfahrenen richten sich aus dem Sitz auf. Die Erfahrenen hingegen stellen den linken Fuß, also den zur Tür gewandten, noch im Sit­zen auf die oberste Stufe und schieben sich dann aus dem Sitz. Am Ende stehen sie mit dem linken Bein auf der obersten Stufe und beginnen rückwärts gerichtet den Abstieg.“

Das liegt daran, dass die Unerfahrenen im Stehen erst mal die erste Stufe sehen müs­sen, während die Erfahrenen wissen, dass sie die Stufe mit dem Fuß bereits ertasten können. Das Erstaunliche war allerdings: „Weder die alten Hasen noch die Neulinge im Beruf hatten eine bevorzugte Strategie, wie sie einsteigen. Es schien, als ob jedes Mal ein anderer Fuß startete, egal, wie viele Stufen der Lkw hatte.“ Das bedeutete, dass die Testpersonen, wenn sie oben ankamen, je nach Anzahl der Stufen, einen Fuß am an­deren Bein vorbeiführen mussten, um gut auf den Sitz zu gelangen. Das bietet Gefahr für einen Absturz.

Besonders gefährlich wurde es bei vier Stu­fen während einer früheren Studie. Trotz Hinweis fiel ein Fahrer sogar aus dem Fahr­zeug. Latka erweiterte den Test, indem sie die Probandin und die Probanden mit einem Gegenstand in der Hand ein- und aussteigen ließ.

„Die meisten Teilnehmenden haben das Klemmbrett eher in der der Tür zuge­wandten Hand beim Ein- und Aussteigen festgehalten. Vermutlich, weil sie sich dann mit dem Körper an der Tür mitabstützen kön­nen. Der Test zeigte aber, dass die Fahrzeug­führenden sich nur schlecht dabei an drei Punkten gleichzeitig abstützen“, sagt Latka. Etwas, das in der „freien Wildbahn“ immer wieder zu sehen ist und von der BG Verkehr als klare Gefahrenquelle herausgestellt wird: „Beim Auf- und Absteigen dürfen die Fahrerinnen und Fahrer keine Gegenstände in den Händen halten und sollten sich die ‚2+1-Technik‘ einprägen: Zwei Hände fassen an die Haltegriffe und ein Fuß befindet sich auf einer Stufe“, erklärt Bernd Hörter, Leiter des DGUV-Sachgebiets Fahrzeuge.

Fahrzeugwechsel verinnerlichen

Fahrerinnen und Fahrer sollten das Modell, das sie gerade fahren, unbedingt kennen. „Nur wer sich bewusst vor Augen führt, dass sich die Stufenzahl geändert hat, kann Unfälle vermeiden“, ergänzt Fischer. Zudem sollten Tritte und Haltemöglichkeiten immer män­gelfrei sein und von Nässe, Schnee und Eis frei gehalten werden. Hindernisse und Stol­perfallen müssen beseitigt werden. „Nicht nur bei der Fahrt ist das richtige Schuhwerk entscheidend, sondern auch beim Ein- und Ausstieg. Es muss den Fuß umschließen und rutschfest sein“, betont Hörter.

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In ihrer Forschung veränderte Latka den Aufbau des Lkw: „Bei unseren Tests haben wir auch die Geometrie des Fahrzeugs mo­difiziert und Haltegriffe sowie Trittstufen versetzt. So konnten wir die Fahrerin und die Fahrer stärker in ihrer Bewegung führen.“ Durch diesen Wechsel wurden die Teilneh­menden gezwungen, so zu starten, dass sie oben ohne Beinwechsel am Sitz ankamen. Diese Maßnahmen konnten jedoch nicht verhindern, dass die Profis sich beim Aus­steigen von der letzten Stufe fallen lassen, beim Aufsteigen auf die erste Stufe springen oder sich nur mit einer Hand am Fahrzeug festhalten. Dies birgt das Risiko eines Ab­sturzes. Hier helfen nur regelmäßige Unter­weisungen, um das Verhalten zu ändern.

Deshalb entwickelte die BG Verkehr die neue Unterweisungskarte „Ein- und Aus­steigen“, die beschreibt, wie man es rich­tig macht. Zudem gibt es einen Aufkleber für die Fahrzeuginnentür. Dieser erinnert die Fahrerinnen und Fahrer an das richtige Schuhwerk. Hörter betont: „Das Ein- und Aussteigen sollte regelmäßig unterwiesen werden, insbesondere bei Fahrzeugwech­sel. Fahrerinnen und Fahrer müssen bewusst und konzentriert ein- bzw. aussteigen, um Unfälle zu vermeiden. Das gilt für Fahrer- und Beifahrerseite.“

Dr. Marc Sgonina
Redaktion SicherheitsProfi

Animationsfilm der BG Verkehr zum Ein- und Aussteigen

https://vimeo.com/296371756