
Zumindest ein Gutes hatte die Corona-Krise in den Jahren 2020 und 2021: Mit der Verkehrsleistung auf der Straße ging auch die Zahl der Verkehrsunfälle deutlich zurück. Doch diese Zeiten sind vorbei. Im Jahr 2023 erfasste die Polizei in Deutschland 2,5 Millionen Unfälle im Straßenverkehr, eine Steigerung von zwölf Prozent gegenüber 2020. Bei den Unfällen mit Personenschäden beträgt das Plus immerhin mehr als zehn Prozent. Rund 80 Expertinnen und Experten aus Unternehmen und Organisationen spürten während eines Fachgesprächs der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) in Bad Hersfeld Ursachen und Lösungsmöglichkeiten nach.
15 Prozent treten auf die Bremse, wenn sie sich durch drängelnde Fahrzeuge hinter sich belästigt fühlen.
Zwei zentrale Erkenntnisse: Gerade innerorts sorgen Mobilitätstrends für neue Gefahren. Die Zahl der Unfälle, in die Elektro-Fahrräder und Elektro-Kleinstfahrzeuge wie etwa Elektro-Roller verwickelt sind, steigt sprunghaft. Auch die Aggressivität im Straßenverkehr steigt nicht nur gefühlt. „Emotion wird zunehmend direkt in Fahrverhalten umgesetzt“, brachte es Dr. Jörg Hedtmann, Leiter des Geschäftsbereichs Prävention der BG Verkehr, auf den Punkt.
E-Roller: Zahl der Toten verdoppelt sich jedes Jahr
An den Gesamtunfallzahlen haben Elektro- Fahrräder und -Roller noch einen relativ kleinen Anteil. Aber Henrik Liers, Geschäftsführer der Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden, hatte einen guten Grund, die neue urbane Mobilität unter die Lupe zu nehmen. „Die Zahl der bei Verkehrsunfällen getöteten Fahrer von E-Rollern verdoppelt sich jedes Jahr“, sagt Liers. Auch die Zahl der Unfälle mit Personenschäden, an denen E-Bikes beteiligt sind, ist seit 2021 um 70 Prozent auf 10.153 geklettert.
Die hohen Unfallzahlen gehen auch auf Fehler bei der Nutzung und mangelhafte Regelkenntnis zurück. Liers zitierte aus einer Befragung, nach der 70 Prozent der Nutzenden von E-Rollern zugaben, ohne Helm unterwegs zu sein. Mehr als die Hälfte kannte die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht. Und nur zwei Drittel kannten die Promillegrenze nicht, die sich nicht von der für andere Kfz unterscheidet. Kein Wunder, dass die meisten Unfälle am Wochenende in den Nachtstunden passieren und Alkohol in jedem fünften Fall im Spiel ist. Aber auch nüchtern macht die Fahrdynamik der Roller Probleme. Bei 30 Prozent der Unfälle handelt es sich um Stürze, an denen kein weiterer Verkehrsteilnehmender beteiligt war. Neben Verhaltensänderungen der Nutzenden, so der Unfallforscher, könnten auch die Hersteller der Roller zu mehr Sicherheit beitragen – durch größere Räder, effektivere Bremsen und einen Fahrtrichtungsanzeiger (Pflicht ab 2027).

„Aggressives Verhalten wird häufiger zugegeben und noch häufiger bei anderen beobachtet.“
Lastenräder: Wissenschaftliche Daten fehlen
Eine erhebliche Bedeutung für den innerstädtischen Verkehr werden nach Ansicht von Liers Lastenräder bekommen. Die sind zwar nicht neu, aber aufgrund der mittlerweile verfügbaren E-Antriebe attraktiver als je zuvor. Das schlägt sich in den Verkaufszahlen nieder: 2023 wurden in Deutschland mehr als 235.000 Lastenräder gekauft, davon 189.000 mit Elektroantrieb. Berichte über Rahmenbrüche, Kippneigung und unpassende Bremsanlagen zeigen jedoch, dass in Sachen Sicherheit auch hier noch Luft nach oben ist. Umso erstaunlicher, dass Lastenräder in der amtlichen Unfallstatistik nicht gesondert aufgeführt werden und auch Studien zum Nutzungsverhalten fehlen. Hier müsse sofort etwas geschehen, mahnte Liers.
Drängeln, hupen, ausbremsen
„Etwas geschehen“ muss auch in Sachen „Aggressivität im Straßenverkehr“. Das geht jedenfalls aus Ergebnissen der Studie „Verkehrsklima in Deutschland 2023“ hervor, die von Greta Große vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), vorgestellt wurden. „Aggressives Verhalten wird, im Vergleich zu den letzten Befragungen der Jahre 2016 und 2019, über alle Fragen hinweg von Pkw-Fahrenden häufiger zugegeben und noch häufiger bei anderen beobachtet“, sagte die Verkehrspsychologin. Kostproben:
- Sechs Prozent der Pkw-Fahrenden finden, dass Drängeln bei den vollen Straßen heutzutage zu ihrem Fahrstil dazugehört.
- Sechs Prozent setzen auf der Autobahn die Lichthupe ein.
- Elf Prozent drängeln, um an Bummlern vorbeizukommen.
- Zwölf Prozent scheuchen Linksfahrende durch dichtes Auffahren aus dem Weg.
- 15 Prozent tippen kurz auf die Bremse, wenn sie sich durch drängelnde Fahrzeuge hinter sich belästigt fühlen.
Bei den Untersuchungen 2016 und 2019 lag der Anteil Fahrender mit aggressiven Verhaltensweisen signifikant niedriger. Fahrrad- und Pedelecfahrende wurden ebenfalls befragt – auch bei diesen Verkehrsteilnehmenden ist Aggressivität alles andere als ein Fremdwort. Gegensteuern will der GDV zum einen mit mehr Kontrollen, deutlicheren Sanktionen und einer höheren Identifizierbarkeit. Gleichzeitig schlägt der Verband vor, Therapien zur Stress- und Ärgerregulation von Autofahrenden zu fördern.
Cannabis – die große Unbekannte
Keine Option zur Stressregulierung bleibt für Verkehrsteilnehmende übrigens der Genuss von Cannabisprodukten – trotz teilweiser Legalisierung und der gesetzlichen Festlegung eines Grenzwerts von 3,5 ng/ml THC im Blutserum. „Die Wirkung ist individuell unterschiedlich und die Wirkungszeit lässt sich schwer berechnen“, warnt Kay Schulte vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR). Zwischen Cannabiskonsum und Fahrtantritt sollten deshalb mindestens 24 Stunden liegen. Unternehmen rät der DVR, über eine Betriebsvereinbarung klare Regeln für den Cannabiskonsum vor und während der Arbeit aufzustellen. „Wer kifft, fährt nicht“, sagt Schulte, der darauf hinwies, dass für Fahranfängerinnen und -anfänger in der Probezeit oder Personen unter 21 Jahren ein absolutes Cannabis- und Alkoholverbot am Steuer gilt.
Björn Helmke
Redaktion SicherheitsProfi
Statistik: Unfälle mit Arbeitsbezug
Die Entwicklung auf den Straßen schlägt sich auch in der Arbeitswelt nieder. Das zeigte der Vortrag von Maraike Tonzel, Leiterin des Sachgebiets Verkehrssicherheit in der Arbeitswelt, und ihrer Stellvertreterin Sarah Langer klar auf. Von den 290.000 Unfällen mit Personenschäden im Jahr 2023 hatten 130.000 als Wegeunfälle, Arbeitsunfälle oder Dienstwegeunfälle einen Arbeitsbezug. Wegeunfälle – also Unfälle von Versicherten auf den Arbeitswegen – machten mit 111.500 Fällen den Löwenanteil aus.
Von 2.839 tödlichen Straßenverkehrsunfällen hatten immerhin 282 einen Arbeitsbezug – das entspricht zehn Prozent. 200 davon entfielen auf Wegeunfälle, 56 auf Arbeitsunfälle und 26 auf Dienstwegeunfälle. Unter Dienstwegeunfällen versteht man zum Beispiel Unfälle auf Wegen von einer Arbeitsstätte zur anderen, auf dem Werksgelände oder zwischen Betrieb und Außenarbeitsplatz.
Als Unfallschwerpunkt benannten Tonzel und Langer den innerörtlichen Verkehr mit einem Anteil von 66 Prozent (hochgerechnete Zahlen: Juli 2023 bis Juni 2024). Allerdings lag der Anteil schwerer oder tödlicher Unfälle mit Arbeitsbezug innerorts nur bei zehn Prozent. In 16 Prozent der Fälle war die Autobahn der Schauplatz. Hier lag der Anteil der schweren und tödlichen Unfälle bei 25 Prozent. Auf sonstige außerörtliche Straßen waren es 18 Prozent der Unfälle – davon entfielen 24 Prozent auf schwere und tödliche Unfälle. Die häufigsten Unfallhergänge dabei: Abkommen von der Fahrbahn, Auffahrunfälle auf andere Fahrzeuge und Zusammenstöße mit kreuzenden oder abbiegenden Fahrzeugen.