
Nach einer Studie des Statistischen Bundesamts von 2018 sind weniger als ein Prozent aller Verkehrsunfälle auf Müdigkeit am Steuer zurückzuführen. „Aber das ist weit entfernt von der Realität“, sagt Dr. med. Bernd Mützel, Leiter der Abteilung Arbeits- und Verkehrsmedizin sowie Arbeitspsychologie bei der BG Verkehr. Studien zeigen, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt. Mützel führt aus: „Bereits 2004 war klar, dass Tagesmüdigkeit eine zentrale Rolle spielt. Inzwischen hat sich daneben der Begriff Tagesschläfrigkeit in der Forschung etabliert.“ Obwohl beide Namen umgangssprachlich oft gleichgesetzt werden, haben sie unterschiedliche Ursachen und Bedeutungen für die Verkehrs- und Schlafmedizin.
Tagesmüdigkeit
Doch was genau ist Tagesmüdigkeit eigentlich? Und wie unterscheidet sie sich von der sogenannten Tagesschläfrigkeit? Mützel erklärt: „Bei Tagesmüdigkeit handelt es sich um ein subjektives Gefühl der Erschöpfung, das viele Fahrerinnen und Fahrer kennen. Sie schlafen deswegen aber nicht unbedingt ein.“ Die Symptome ähneln beispielsweise Long Covid, weshalb medizinisches Fachpersonal hinzugezogen werden sollte. Tagesmüdigkeit hängt oft mit Schlafmangel, unregelmäßigem Tag-Nacht-Rhythmus oder Medikamentengebrauch zusammen. „In der Verkehrsmedizin ist das ein echtes Problem, weil die Erschöpfung der Fahrenden schwer messbar ist“, warnt Mützel.
Neben der medizinischen Behandlung gibt es auch praktische Maßnahmen, um Tagesmüdigkeit im Beruf zu vermeiden. „Regelmäßige Pausen, ausreichend Schlaf, Bewegung und gesunde Ernährung sind entscheidend“, sagt Mützel. Die Lenk- und Ruhezeiten sind ein Kompromiss aus Arbeitsorganisation und physiologischen Bedürfnissen. „Im Idealfall sollten Pausen nach zwei bis drei Stunden erfolgen, brauchen dafür aber auch nicht ganz so lang zu sein“, empfiehlt Mützel. Da jeder Mensch anders ist, lassen sich Pausenschemata schlecht in Verordnungstexte pressen. Er schlägt kurze Bewegungspausen und kleine Mahlzeiten anstelle einer längeren Sitzpause mit einer großen Mahlzeit vor. „Aber das lässt sich mit dem Pkw viel einfacher umsetzen als beispielsweise im Bus- oder Lkw-Verkehr. Das kann mitunter problematisch sein, denn hierdurch führen der Mangel an wirklich geeigneten Lkw-Rastplätzen und die Auftragstaktung zum Weiterfahren, obwohl bereits ein subjektives Pausenbedürfnis besteht.“ Es ist wie mit dem Trinken: Wer den Durst verspürt, hat schon einen Mangel an Flüssigkeit. Daneben spielen auch eine gute Beleuchtung und angenehme Raumtemperaturen, etwa in Fahrerkabinen, eine wichtige Rolle. „Wenn sich die Tagesmüdigkeit trotz solcher Maßnahmen nicht verbessert, sollten Unternehmen und Beschäftigte nicht zögern, die Betriebsärztin oder den Betriebsarzt zu kontaktieren und die (Wunsch-)Vorsorge zu veranlassen.“
Tagesschläfrigkeit
Präziser definierbar hingegen ist die Tagesschläfrigkeit. „Hier sprechen wir von einem Zustand, der nicht nur spürbar, sondern auch messbar ist“, erklärt Mützel. „Die Betroffenen haben echte Schwierigkeiten, wach und aufmerksam zu bleiben. Das wird besonders gefährlich bei monotonen Strecken, wie langen Fahrten auf der Autobahn. Ohne Abwechslung auf der Straße wird es für die Fahrenden fast unmöglich, wach zu bleiben.“ Zu den Symptomen zählen nicht nur Aufmerksamkeitsstörungen, sondern auch ungewolltes Einschlafen und der gefürchtete Sekundenschlaf. „Wenn Fahrende bei eintönigen Bedingungen die Augen nur für wenige Sekunden schließen, kann das fatale Folgen haben“, warnt Mützel. „Monotonie-Intoleranz, wie wir das nennen, ist besonders für Berufskraftfahrerinnen und -fahrer ein großes Risiko.“
„Bei einer Schlafapnoe in Verbindung mit starker Tagesschläfrigkeit ist das Führen eines Fahrzeugs erst einmal tabu.“
Tagesschläfrigkeit wird zumeist durch das obstruktive Schlafapnoesyndrom (OSAS) verursacht, eine Atemstörung, die Betroffene oft nicht bemerken, obwohl sie nachts schnarchen oder Atemaussetzer haben. Der nächtliche Sauerstoffmangel und das dadurch auftretende häufige Aufwachen verursachen Tagesschläfrigkeit.
Etwa 20 Prozent der 40- bis 60-jährigen Männer sind betroffen, bei über 65-Jährigen steigt der Anteil auf bis zu 60 Prozent. Auch Frauen erkranken nach der Menopause häufiger daran. Betroffene sollten zuerst einmal die Hausärztin oder den Hausarzt sowie gegebenenfalls die Betriebsärztin oder den Betriebsarzt aufsuchen. „Anhand der geschilderten Symptome können diese schon einige Untersuchungen selbst durchführen, etwa Blutdruck, Blutzucker- und Schilddrüsenwerte sowie den Body Mass Index ermitteln. Außerdem stellen sie gezielt Fragen zum Beruf“, erklärt Mützel. So klären sie, ob in Schicht- oder Wechseldienst gearbeitet wird und der Biorhythmus unterbrochen ist. Hinzu kommen Fragen zum persönlichen Leben, also Schlafverhalten, Beobachtungen durch Familienmitglieder, Familienkrankengeschichte und vieles mehr. Wichtig sind auch Vorerkrankungen, wie Asthma oder wiederkehrende Entzündungen der Atemwege. „Auf dieser Grundlage kann der Arzt dann eine Empfehlung für die weiteren Untersuchungen geben“, sagt Mützel. Manchmal sind sogar mehrere Fachrichtungen nötig, um unterschiedliche Ursachen auszuschließen. „Zum Beispiel Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Lungenfachkunde bei Atemwegsbeschwerden, etwa bei Schnarchen oder eingeschränkter Lungenfunktion oder Allergien, Innere Medizin bei Laborauffälligkeiten, wie Schilddrüsenwerte und Diabetes, oder die Orthopädie bei anhaltenden (Rücken-)Beschwerden im Sitzen und Liegen“, erklärt Mützel.
„Unternehmen sollten Tagesmüdigkeit und Tagesschläfrigkeit in Gefährdungsbeurteilungen aufnehmen.“
Die Konsequenzen für die Fahrtauglichkeit sind nicht zu unterschätzen. „Bei einem mittelschweren oder schweren OSAS mit starker Tagesschläfrigkeit ist das Führen eines Fahrzeugs erst einmal tabu“, stellt Mützel klar. „Die Krankheit ist aber behandelbar. Deshalb keine Angst vor der Diagnose.“ Seit über 40 Jahren gibt es beispielsweise die sogenannte PAP-Therapie (Positive Airway Pressure, Positiver Atemwegsdruck), bei der die Atemwege während des Schlafens durch Überdruckbeatmung offen gehalten werden. „Fahrerinnen oder Fahrer, die an OSAS leiden, können nach erfolgreicher Behandlung wieder als verkehrstauglich eingestuft werden. Voraussetzung ist, dass sie sich regelmäßig ärztlich untersuchen lassen – spätestens nach einem Jahr“, betont Mützel.
Mehr Aufklärung
Unternehmen sollten Tagesmüdigkeit und Tagesschläfrigkeit in Gefährdungsbeurteilungen aufnehmen und Fahrerinnen und Fahrer schulen. Präventive Maßnahmen und betriebsärztliche Beratungen sollten Standard sein. „Natürlich sind Fahrerassistenzsysteme, wie Einschlafwarnsysteme oder Tempomaten, die auf monotone Fahrbedingungen reagieren, ein großer Beitrag zur Verkehrssicherheit. Aber sie allein sind nicht die Lösung“, sagt Mützel. Letztlich gehe es um Aufklärung. „Wir brauchen mehr Transparenz in den Statistiken. Müdigkeit am Steuer muss als echte Gefahr wahrgenommen werden. Das Thema sollten nicht nur Fachärztinnen und Fachärzte, sondern auch Unternehmen ernst nehmen“, fordert Mützel abschließend. „Je mehr wir über Tagesmüdigkeit und Tagesschläfrigkeit wissen, desto besser können wir präventiv handeln – und das schützt am Ende alle im Straßenverkehr.“
Dr. Marc Sgonina
Redaktion SicherheitsProfi